Interview: „Grips“-Gründer Volker Ludwig gilt als Pionier des modernen deutschen Kindertheaters. Zum 75. Geburtstag ein Gespräch über Geldnot, ängstliche Lehrer und Stücke, die Mut machen
Erschienen am 13.6.2012, Feuilleton, Augsburger Allgemeine Zeitung
Volker Ludwig, Gründer des Berliner „Grips“, ist so etwas wie der Erfinder des modernen Kindertheaters in Deutschland. 2011 hat er nach mehr als 40 Jahren die künstlerische Leitung an Stefan Fischer-Fels übergeben, arbeitet aber weiter als Grips-Geschäftsführer und -Stückeschreiber. Heute wird Volker Ludwig 75 Jahre alt.
Vor kurzem haben Sie einen öffentlichen Hilferuf wegen der prekären Finanzlage des Grips gestartet. Auch wenn das Theater jetzt zusätzliche Fördergelder bekommt, wird es in der Spielzeit 2012/13 weniger Uraufführungen als sonst geben, weil das Geld zu knapp sei. Ist Ihnen momentan überhaupt zum Feiern zumute?
Ludwig: Doch, schon. Ab und zu muss man halt mal schreien. Aber wir sind es ja gewohnt, ein strukturelles Defizit zu haben. Es ist leider immer noch so, dass Kinder- und Jugendtheater nicht für voll genommen wird – egal wie hoch die Qualität ist. Wir haben eines der besten Ensembles, Schauspieler wie Axel Prahl, die mit uns berühmt geworden sind, Stücke, die in über 50 Ländern inszeniert werden. Nur der Eintritt ist viel niedriger. Wir müssten also mehr staatliche Förderung als Erwachsenentheater bekommen, stattdessen bekommen wir weniger.
Vielleicht werden Kinder hierzulande immer noch nicht ernst genommen.
Ludwig: Wahrscheinlich. Mir hat jedenfalls noch niemand erklären können, warum Kindertheater weniger wert sein soll als das für Erwachsene.
Sie haben 1966 den Vorläufer des jetzigen Grips-Theaters gegründet. Aus welcher Intention heraus?
Ludwig: Ich habe ursprünglich politisches Kabarett gemacht, was so etwas wie die Stimme der Berliner Studentenbewegung war. Genauso wie die Studenten auf Kinderläden kamen, kamen wir aufs Kindertheater. Für Kinder gab es auf der Bühne bis dahin nur Weihnachtsmärchen. Das waren oft schreckliche Veranstaltungen auf grausigem Niveau. Man hat sich nie Gedanken gemacht, was Kinder bewegt, was für sie gut ist. Und wir hatten ja auch keine Ahnung von Kindererziehung. Wir wurden dann eben vom Publikum erzogen, das uns nach den Aufführungen gesagt hat, über was wir als Nächstes spielen sollen. Bis heute reagieren wir auf die Probleme der Kinder, insofern hatten wir auch nie so etwas wie eine Theater-Sinnkrise.
Ihr Lieblingswort für Grips ist „Mutmach-Theater“. In welchen Bereichen müssen Kinder ermutigt werden?
Ludwig: Ich möchte heute jedenfalls kein Kind sein. Den Stress, dem sie von der 1. Klasse an ausgesetzt sind, gab’s früher nicht. Als ich mein Abitur gemacht habe, war es egal, welche Noten ich hatte. Die Existenzangst der Kinder ist viel größer als damals. Ein weiteres Thema ist natürlich, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird.
Sie spielen derzeit zum Beispiel Stücke über gewalttätige Jungs und das Thema Einschulung. Wie schafft man es, dass realistisches Theater Kinder nicht überfordert?
Ludwig: Wir versuchen, den Kindern Hoffnung zu machen. Es ist natürlich immer ein Drahtseilakt zwischen optimistischem Theater und einem Theater, das nicht lügt. Wir zeigen kein Happy End, aber immer Möglichkeiten auf nach dem Motto „Es kann auch anders sein“. Oft hilft es den Kindern schon, dass sie hinterher über bestimmte Themen reden können, die im Stück vorkamen, dass sie sich nicht alleine fühlen, neue Perspektiven bekommen.
Ist es schwieriger geworden, Kinder und Jugendliche ins Theater zu holen?
Ludwig: Wir haben von Anfang an auf Schulvorstellungen gesetzt, damit Kinder aller Schichten das Theater kennenlernen können. Dabei sind wir auch immer abhängig vom jeweiligen Lehrer. Unsere Hauptaufgabe besteht mittlerweile darin, Lehrer zu motivieren, mit ihrer Klasse überhaupt noch zu uns zu kommen. Die Hälfte von ihnen hat keine Lust darauf. Oder mag sich den zusätzlichen Stress nicht antun. Die frühere Generation der 68er-Lehrer, die jetzt in Rente ist, war da viel aufgeschlossener.
Gab es schon Stücke, die Sie aus dem Programm nehmen mussten?
Ludwig: Manche laufen schlechter, weil Lehrer Angst haben vor existenziellen Themen. Die sagen dann, ich habe so viele Scheidungskinder in der Klasse, ich will mir dieses Problem nicht auch noch aufhalsen. Dabei sind solche Stücke für die betroffenen Kinder oft sehr befreiend.
Kinder machen ihren Gefühlen oft spontan Luft. Für Schauspieler dürfte das eine große Umstellung sein.
Ludwig: Die Kinder sitzen bei uns von drei Seiten um die Bühne. Wenn sie die Füße ausstrecken, können wir eigentlich nicht spielen. Das ist natürlich ungewohnt. Man muss mit dem Publikum interagieren wollen. Schauspieler, die das nicht tun, kommen meistens erst gar nicht zu uns. Kinder sind nicht höflich, sondern laut und spontan, aber auch viel begeisterungsfähiger als die verpennten Erwachsenen.
Sie sind jetzt 75 und machen noch immer Kindertheater. Hatten Sie schon mal Schwierigkeiten wegen des Altersunterschieds zu Ihrem Publikum?
Ludwig: Probleme gab es eigentlich noch nie. Es gibt schließlich auch 18-jährige Greise. Und die besten Kindergeschichten hat Astrid Lindgren mit 80 geschrieben. Es kommt einfach darauf an, dass man sich mit dem auskennt, worüber man schreibt. Ich bin ein später Vater, mein jüngster Sohn ist 17. Da bekomme ich natürlich auch viel mit.
Hält das Kindertheater Sie jung?
Ludwig: Der Stress hält mich jung, die ganzen Probleme. Man muss immer weiterkämpfen. Wenn alles von alleine laufen würde, wäre es langweilig, und ich hätte wohl schon längst aufgehört.